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Textauszug: STERNENKLAR
Stella ist, wie alle Kinder, von Dinosauriern fasziniert. Sie weiß, dass Dinosaurier einmal vor langer Zeit auf der Erde gelebt haben, aber sie hat noch keine genaue Vorstellung von Zeiträumen und Dauer. "Vor langer Zeit" könnte für sie auch heißen: Als Oma und Opa Kinder waren. Seit sie in den Herbstferien aber das riesige Brontosaurierskelett im Berliner Naturkundemuseum gesehen hat, ist ihr klar, dass das nicht stimmen kann.
"Wieso gibt es eigentlich keine Dinosaurier mehr?", wollte sie von mir wissen.
"Ach, na ja", sagte ich. "Das ist ganz normal. Früher gab es viele Tiere, die es heute nicht mehr gibt."
"Und warum?"
"Sie haben irgendwann keine Kinder mehr bekommen."
Ungläubig sagte sie: "Alle Tiere bekommen doch Kinder!"
"Ja schon. Aber manchmal bekommen sie eben keine mehr. Sie werden müde und legen sich lieber schlafen. Man muss auf Kinder ja immer gut aufpassen."
"Die Dinosaurier sind müde geworden und wollten keine Kinder mehr?"
"So ungefähr."
"Das finde ich aber blöd", sagte sie.
"Na klar. Ist es ja auch. Aber für viele andere Tiere war das sehr gut. Die Dinosaurier waren ja ziemlich gefährlich."
"Nicht alle", belehrte sie mich.
"Das stimmt. Aber manche schon."
"Und warum sind nicht nur die gefährlichen müde geworden, und die anderen nicht?"
"Ja", sagte ich. "Das wäre schön. Aber schlafen müssen eben alle irgendwann."
Damit gab sie sich zufrieden. Sie sprang zu den Vitrinen mit den Ichtyosaurien und hopste von dort weiter zum Archäopterix. Mir war nicht ganz wohl bei der Erklärung, die ich ihr gegeben hatte. Aber hätte ich ihr die Wahrheit sagen sollen? Hätte ich ihr sagen sollen, dass vor rund sechzig Millionen Jahren ein gewaltiger Gesteinsbrocken, ein Meteorit von rund zehn Kilometern Durchmesser, die Erde getroffen und die Ära der Dinosaurier in kürzester Zeit beendet hatte?
Es muss die Hölle gewesen sein, wenn nicht noch schlimmer. Der Meteorit schlug in der Region des heutigen Golfs von Mexiko auf der Halbinsel Yucatan ein. Die Energie des Aufpralls entsprach dem Zehntausendfachen der Energie des gesamten Atombombenarsenals der Großmächte. Unvorstellbare Mengen an Staub wurden in die Atmosphäre geschleudert und verdunkelten über Jahre den Himmel. Die meisten Pflanzen starben ab, womit den Tieren die Nahrungsgrundlage entzogen wurde. Eine gewaltige Flutwelle wälzte sich über die Kontinente, und schwefelhaltiger Regen zersetze die Schalen der Dinosauriereier. über siebzig Prozent aller damals lebenden Tierarten starben aus, und die zweihundert Millionen Jahre andauernde Herrschaft der riesigen Echsen ging zuende.
Hätte ich Stella wirklich sagen sollen: "Das Universum hat uns hervorgebracht, aber es kann uns im Bruchteil einer Sekunde auch wieder zerstören?" Denn so ist es: Rein statistisch kommt es alle hundert Millionen Jahre zu einem Meteoriteneinschlag von derart katastrophalem Ausmaß. Das Nördlinger Ries in Süddeutschland ist der Einschlagkrater eines Meteoriten, der die Erde vor etwa fünfzehn Millionen Jahren getroffen hat. Mit anderthalb Kilometern Durchmesser war er verhältnismäßig klein, und seine Auswirkungen blieben lokal begrenzt. Soviel Glück im Unglück hatten die Dinosaurier nicht.
Ich hatte Stella erzählt, dass für sie im Himmel ein Stern leuchtete und darauf wartete, von ihr entdeckt zu werden. Ihr jetzt zu sagen, dass dort auch dunkle Gesteinsbrocken umherflogen, die auf einen Schlag nahezu alles vernichten konnten, was es an Leben auf der Erde gibt, brachte ich nicht übers Herz.