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Auszug aus “Nacht ohne Engel“
In Dahlem hatte sich auf den Straßen ein leichter weißer Schneefilm gebildet, der vor jener Villa, in der Roger wohnte, noch unberührt war. Ein alter Eisenzaun zwischen hohen Backsteinpfeilern umgab das zweistöckige Gebäude, das ungefähr aus der Zeit um die Jahrhundertwende stammte. Der Weg durch den Vorgarten war gepflastert, immergrünes Efeu bedeckte den Boden zu beiden Seiten, begrenzt von Eiben, die nicht regelmäßig in Form geschnitten wurden. Die Wurzeln hatten das Pflaster hier und da angehoben, und die Sockelsteine neben der Haustür waren verwittert. Eine leicht verwunschene Aura umgab das Haus.
Die Inneneinrichtung stammte allerdings aus den sechziger Jahren und war ziemlich nüchtern: helle Schleiflackmöbel, weiße Rauhfaserwände und graue Veloursböden. Nur das Wohnzimmer, einstmals der Salon, war mit Eichenparkett und Stuck an der Decke noch in seinem ursprünglichen Zustand. Von dort führte eine zweiflüglige Tür in einen großzügigen Wintergartenvorbau, wo sie im Herbst oft gesessen hatten, wenn es im tiefer gelegenen Garten zu feucht geworden war. Vincent rechnete nicht damit, dort jetzt jemanden anzutreffen. Deshalb war er überrascht, als eine junge Frau, die er nicht kannte, in einem der Korbsessel saß und las. Für die Kreise, in denen er sich bewegte, war ihre Kleidung eher ungewöhnlich: gebügelter (Vincent besaß nicht mal ein Bügeleisen) pfefferminzgrüner Rock, feingestrickte Jacke und darunter eine hochgeschlossene Bluse mit Stehkragen. Vincent wusste nicht genau, was er von ihrer Erscheinung halten sollte, aber als sie von ihrem Buch aufsah, raubte ihr Blick unter dem ziemlich gestrigen Pony ihm den Atem.
„Er hat sie gehen lassen“, sagte sie.
„Wie bitte?“
„Er hat sie gehen lassen. Und jetzt trinkt er.“
„Wer denn?“
Sie hob das Buch auf ihrem Schoß ein wenig an.
„Schiwago. Er hat Lara fortgehen lassen. Natürlich um ihr das Leben zu retten. Kennst du Doktor Schiwago?“
Er hielt den Roman für einen historischen Schmöker mit Hollywood-Appeal. „Nein“, sagte er.
„Ich bin fast durch.“
„Am Ende fällt sich das Liebespaar in die Arme.“
„Ich befürchte, nein“, sagte sie.
Er setzte sich.
„Ich lese keine historischen Romane.“
„Und was liest du?“
„Literatur, die mit meiner Erfahrung zu tun hat.“
„Liebe hat nichts mit deiner Erfahrung zu tun?“
„Nicht die in Romanen.“
Sie klappte das Buch zu.
„Welche denn? Ich bin Jule.“
„Vincent. Ein Freund von Roger.“
„Ja, ich glaube, er hat deinen Namen mal erwähnt. Er ist mein Cousin.“
Sie sah Roger nicht ähnlich, was bei Cousin und Cousine ja möglich gewesen wäre. Ihr Gesicht war hell, ihre Nase größer als Rogers, die klein war, fast zierlich. Ihre Augen waren besonders, hellbraun und – ein Rätsel – sowohl schmal als auch groß. Er musste immer wieder hinsehen. Er wollte nicht aufdringlich wirken.
Den Geräuschen aus dem Wohnzimmer nach, war nun auch der VW-Bus eingetroffen. Es wurde laut, ein Gemisch aus Gesprächen, Kleidergeraschel und Gläserklirren drang in den Wintergarten, und in der Luft breitete sich süßliches Marihuanaaroma aus. Roger – Vincent nahm an, dass es Roger war – legte Musik auf oder jedenfalls das, was er darunter verstand, er hatte, um das Mindeste zu sagen, einen ziemlich speziellen oder extravaganten Musikgeschmack: John Coltrane oder Ornette Coleman, mehr Hysterie als Musik, wie Vincent immer wieder fand, aber dagegen war nichts zu machen. Rogers Musik musste man hinnehmen, sie war der Preis dafür, dass man in dieser herrschaftlichen Villa die Revolution planen durfte.
„Es war verflucht kalt auf der Straße“, sagte Vincent und stellte sich an einen der alten gusseisernen Heizkörper an der Stirnseite des Wintergartens, dessen Metallrippen so heiß waren, dass man sich fast die Finger daran verbrannte. Im schwachen Lichtschein von Jules Leselampe sah man den Schneefall in der Dunkelheit hinter den Fensterscheiben.
„Wolltest du nicht mitkommen?“
„Zur Demonstration?“
„Oder denkst du, es ändert sowieso nichts?“
„Ich wollte lesen.“
„Ach so.“
„Findest du das falsch?“
Er fand es falsch, sagte aber nichts. Lesen konnte man immer, die Welt retten nicht. Trotzdem wollte er Jule gerne kennenlernen. Die Fenster in dem alten Wintergarten waren schlecht verglast und beschlugen von den Rändern her, an denen kleine Eisblumen blühten.
„Magst du Schnee?“, sagte er.
Sie klappte das Buch nun zu, nachdem sie eine Postkarte als Lesezeichen eingelegt hatte.
„Als Kind bin ich oft rausgegangen, wenn es zu schneien begonnen hat, und habe den Kopf in den Nacken gelegt, um das Kitzeln der Flocken auf dem Gesicht zu spüren. Das mag ich immer noch.“
Vincent nickte. „Gefällt mir auch. Aber ich mochte keine Schneeballschlachten.“
„Grässlich!“
„Schee-Engel?“
„Ja. Und du.“
„Ich dachte, das ist was für Mädchen.“
„Und denkst du das immer noch?“
„Ich fand sie schön, habe aber nie einen gemacht.“
„Eskimos haben dreißig Wörter für Schnee.“
Irgendwo hatte er gehört, dass das nicht stimmte, aber das sagte er nicht. Er wollte sie für sich einnehmen und dachte – ein Fehler, den er immer wieder beging, wahrscheinlich war es einfach seine Natur – dass dies eher möglich wäre, wenn man alle Meinungsverschiedenheiten mied. Doch bevor er weiter reden und ein neues Thema anschneiden konnte, kam Roger dazu. Er hatte zwei geöffnete Bierflaschen dabei und gab Vincent eine.
„Hier bist du“, sagte er und setzte die Flasche an den Mund. Er trank und warf danach einen ziemlich gelangweilten Blick auf Jule. „Und meine bourgeoise Cousine hast du auch schon kennengelernt.“