zurück



Fragen an Ulrich Woelk zu seinem neuen Roman „Pfingstopfer“

Ihr Roman beginnt an einem Sonntagmorgen, doch ist dieser alles andere als ruhig oder besinnlich. Was ist passiert?

Eine junge Frau wird aufgefunden, ermordet auf eine Weise, die - abgesehen von der Grausamkeit - der Polizei Rätsel aufgibt: Ihr wurde der Schädel geöffnet - und das offenbar chirurgisch professionell. Die Frau wird im Garten eines Gemeindehauses gefunden.

Was ist das für eine Gemeinde?

Es handelt sich um eine freie christliche Gemeinde, wie sie zur Zeit in Deutschland in wachsender Zahl entstehen. Das ist kein neues Phänomen, aber im Gegensatz zu den traditionellen christlichen Kirchen, deren Mitgliederzahlen sinken, haben freie christliche Gemeinden Zulauf. Die Spannbreite der ideologischen Ausrichtung ist dabei groß. Sie reicht von sehr konservativen, mitunter fundamentalistischen Gruppierungen, die eine wortwörtliche Auslegung der Bibel fordern, bis hin zu offenen und toleranten Gemeinschaften. Eine der weltweit größten freikirchlichen Strömungen ist die Pfingstbewegung, die in einigen Ländern Lateinamerikas dabei ist, der katholischen Kirche den Rang als stärkste Glaubensrichtung abzulaufen.

Zu der Leiche wird Anton Glauberg gerufen, Polizist und Hauptfigur des Romans. Ein schillernder Charakter; ein Mann, der viel erlebt hat, sein Leben aber nicht ganz in den Griff bekommt. Können Sie ihn kurz beschreiben?

Ich weiß nicht, ob er schillernd ist. Seine Frau, von der er seit fast zehn Jahren getrennt lebt, ohne geschieden zu sein, ist klinisch depressiv, sein siebzehnjähriger Sohn droht, von der Schule zu fliegen, und die einzige Frau, der Glauberg sich gelegentlich anvertraut, ist eine ehemalige Prostituierte, die keine feste Beziehung zu einem Mann mehr eingehen kann. Der große Widerspruch in Glaubergs Charakter ist, dass er im Grunde an nichts glaubt, weder an religiöse noch an weltliche Lebensentwürfe, und doch mit seiner Arbeit als Polizist zutiefst eins ist. Während alle anderen den Mordfall schnell abarbeiten wollen, spürt Glauberg von Anfang an, dass die Dinge diesmal anders liegen. Als Polizist glaubt er doch an etwas - nämlich an die Wahrheit und die Möglichkeit, diese aufzuklären. Glauberg ist weltanschaulich heimatlos, aber kein Zyniker.

Glauberg ist überrascht, dass am Sonntagabend Paula Reinhardt vor der Tür seines Hauses sitzt. Er hat die ehemalige Kollegin beim BKA seit Jahren nicht mehr gesehen. Was führt sie zu ihm?

„Pfingstopfer“ ist die Fortschreibung - ich sage ganz bewusst nicht Fortsetzung, weil die Geschichte inhaltlich eigenständig ist - meines Romans „Die letzte Vorstellung“ aus dem Jahr 2002. In diesem wird Glauberg mit dem Mord an einem ehemaligen RAF-Terroristen konfrontiert. Bei den Ermittlungen steht ihm die zehn Jahre jüngere, in der DDR aufgewachsene BKA-Beamtin Paula Reinhardt zur Seite. Doch sie ist am Ende die Täterin. Zwischen ihr und Glauberg entsteht in „Die letzte Vorstellung“ eine emotionale Anziehung, der beide in der gegebenen Situation aber natürlich nicht nachgehen können. Als Autor waren sie für mich über zehn Jahre lang ein unvollendetes Liebespaar. Ich hatte den Wunsch, die Geschichte dieser beiden Menschen mit ihren so unterschiedlichen Biografien zu Ende zu erzählen. Die Mörderin und der Kommissar - geht das überhaupt? Als Paula bei Glauberg auftaucht, ist die Anziehung zwischen den beiden sofort wieder da. Aber wie können sie nach zehn Jahren damit umgehen? Haben Sie die Chance, jetzt zueinander zu finden?

Zu den Mordverdächtigen zählt bald ein Professor für Neurobiologie, der durch neueste Erkenntnisse der Hirnforschung Aufsehen erregt und viele provoziert hat. Wieso gerät er dadurch unter Verdacht?

Die Neurologie macht zurzeit enorme Fortschritte. Mit MRT- und PET-Scannern ist es möglich, in das Gehirn hineinzuschauen und dort neuronale Prozesse direkt zu beobachten. Dadurch stellt sich eine alte philosophische Frage noch einmal ganz neu: Sind wir als Menschen eigentlich frei handelnde Wesen, oder ist nicht alles, was wir tun, nur das Ergebnis von Hirnaktivitäten, auf die wir überhaupt keinen Einfluss haben? Kurz gesagt: Ist der freie Wille nicht nur eine hartnäckige Illusion? Diese Frage rührt an einen Grundpfeiler des Christentums. Die christliche Lehre betrachtet den Menschen als frei und aufgerufen, sich für oder gegen Gott, für oder gegen das Gute oder Böse zu entscheiden. Aus neuronaler Sicht gibt es eine solche Entscheidungsfreiheit aber nicht. Für den Neurobiologen in meinem Roman ist Gott ebenso eine Illusion wie das Konzept der Willensfreiheit. Damit macht er sich unter gläubigen Christen selbstverständlich keine Freunde.

Ihr Roman greift hoch aktuelle Themen auf. Sie erzählen einerseits von religiösem Fundamentalismus und andererseits von Erkenntnissen der Hirnforschung, die unser Menschenbild verändern. Sind diese grundsätzlich unvereinbar?

Das Verhältnis von Religion und Wissenschaft war ja nie unproblematisch. Wir alle kennen die Schwierigkeiten, die Galileo Galilei mit der katholischen Kirche bekam, als er die Erde aus dem Mittelpunkt des Universums gerückt hat. Die Erkenntnisse der Hirnforschung stellen für religiöse Menschen eine ähnliche Zumutung dar wie das heliozentrische Weltbild zu Galileis Zeiten. Wenn die Handlungsfreiheit des Menschen eine Illusion ist, dann wird im Grunde hinfällig, wovon gläubige Christen überzeugt sind: Dass unsere Lebensführung einen Einfluss darauf hat, wie wir dereinst vor unseren Schöpfer treten. Einen Menschen ohne freien Willen kann man nicht richten. Dieses Problem ist im Christentum besonders drängend. Andere Religionen - der Islam oder der Buddhismus - haben andere Konzepte von Willens- und Handlungsfreiheit, die sich mit Vorherbestimmung besser vertragen. In der aktuellen Debatte über religiösen Fundamentalismus geht gelegentlich etwas unter, dass es nicht nur einen islamischen, sondern auch einen christlichen Fundamentalismus gibt. Und dieser stellt sich sogar in besonders vehementer Weise gegen die Wissenschaft.

Anton Glauberg und Paula Reinhardt haben in ihrem Leben ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Was verbindet die beiden, was trennt sie?

Das, was sie trennt, verbindet sie auch: ihre Geschichte. Die Frage ist, ob sie sich über das Trennende hinwegsetzen können. Ist ihre Geschichte ihr unwiderrufliches Schicksal, oder sind sie frei, ihrem Leben eine Richtung zu geben, die sie zueinander führt? Eigentlich wissen sie sehr wenig voneinander, doch irgendwann spricht Paula über ihr Leben und erzählt Glauberg, was ihr als Jugendliche in der DDR widerfahren ist. Da begreift er erst, welche Verletzungen die Diktatur ihr zugefügt hat. Er erkennt, dass sie, die Täterin, zugleich ein Opfer ist.

Ihr letzter Roman hat danach gefragt „Was Liebe ist“. In „Pfingstopfer“ erzählen sie höchst spannend weit mehr als eine Kriminalgeschichte. Hängt das eine mit dem anderen irgendwie zusammen?

Ja - und zwar genau an dieser Stelle. Es spricht ja alles dagegen, dass Glauberg und Paula zueinander finden. Andererseits fühlt er sich zu ihr hingezogen, so wie sie zu ihm. Und das - die Liebe - ist eine ungeheure Macht, gegen die man nur schwer ankommt. Beide müssen sich entscheiden - für oder gegen den anderen. Doch können sie das? Fühlen sie sich frei? Genau auf dieser Nahtstelle zwischen Freiheit und Vorherbestimmung war auch „Was Liebe ist“ angesiedelt. Und ich denke, jeder, der über sein Leben nachdenkt, wird sich fragen, wie viel Freiheit in seiner eigenen Geschichte steckt und wie viel Zufall, Notwendigkeit oder vielleicht sogar Bestimmung ...

Glauberg trinkt gerne und viel Kaffee. Würden Sie mit ihm auch eine Tasse trinken wollen?

Das habe ich schon. Als Autor sitzt man ja immer mit am Tisch, wenn die Figuren sich hinsetzen. Und Glauberg ist mir - wie viele meiner männlichen Helden - sehr nah. Paula und er sind mir inzwischen so vertraut, als wären sie mir wirklich begegnet.